Ich hatte Long Island, genauer Sag Harbor, vor achtzehn Jahren direkt nach meinem Senior-Highschool-Abschluss den Rücken gekehrt und war nach Manhattan gezogen. Ich suchte Erfolg, Abenteuer und ein wildes Leben. In dieser oder einer beliebig anderen Reihenfolge. Und ich fand alles. Im Übermaß. 

Mit einer großen Portion Glück und der netten Gabe, einen wirklich guten Geschmack zu haben, wurde ich recht schnell in der Künstlerszene von SoHo entdeckt, um Events und Partys zu gestalten. Stagen nannte man das dort. Ich entwarf Settings für Feiern und exklusive Vernissagen und verwandelte jede Location in etwas Besonderes, Fantasievolles, noch nie Dagewesenes. 

Wie ein begehrter Wanderpokal reichte man mich von einem Auftraggeber zum nächsten weiter, und von Auftrag zu Auftrag bekam ich mehr gestalterische Freiheiten und Möglichkeiten. Ich kostete die finanzielle Unabhängigkeit, die eine wunderbare Begleiterscheinung geworden war, aus und führte ein Leben wie im Rausch. Schon nach fünf Jahren konnte ich mir ein eigenes kleines Studio leisten und beschäftigte zwei Studenten der Kunstakademie, die mich bei der Realisation meiner Projekte unterstützten und mir den Rücken freihielten. Die Arbeit nahm solche Ausmaße an, dass ich fast jegliche Bindung zu meiner Heimat verlor. Meine liebsten Freundinnen Ava und Madelyn vernachlässigte ich genauso, wie meinen jüngeren Bruder Nathan. 

Obwohl uns während unserer Jugend ein festes Band der Freundschaft und Vertrautheit verbunden hatte, war in meinem Leben in Manhattan kein Platz mehr für sie. Im Laufe der Jahre arbeitete ich mich immer weiter in der Riege der angesagtesten Innenraumgestalter hoch, ließ mich feiern und feierte mich selbst. Die Szene war klein, aber elitär. An rauschhaften Erfahrungen mangelte es nicht. Ich stolperte von einem Kontakt zum nächsten. Die Nächte wurden länger, die Tage hektischer. Meine Kreativität explodierte schier. Ihre Kraft schien mich magisch aufzuladen, mir eine Ausstrahlung zu geben, die mich unwiderstehlich machte. In allen Belangen des Lebens. Jeder wollte mich buchen. Jede wollte mich in ihrem Bett haben.

Ich nahm begierig alles mit, stürzte mich in alle möglichen Affären, liebte mich durch die Nächte und Tage von Manhattan. Ich war in prachtvollen Penthäusern zu Gast, und verschwand auch genauso schnell wieder daraus, wie ich dort angekommen war. Ich vergaß, was es heißen konnte, mich zu verlieben. An Gefühle wollte ich nicht denken. Zu wild und verführerisch war diese Zeit.

Eine kurze Pause in diesem ungezügelten Leben verschaffte mir Chloe, eine Freundin, als sie mir Allison Bishop vorstellte. Eine kluge Galeristin, die sich auf moderne Fotografie spezialisiert hatte. Allison bewies mit ihrer Künstlerauswahl Mut – und verfügte über sehr eigene und konkrete Vorstellungen für ihre Events. Ich fand sie außerordentlich anziehend. Sie aber übersah mich spielend ein halbes Jahr lang.

Dann endlich ergab sich ein gemeinsames Event: eine Ausstellung über die Unterdrückung der Frauen in Afrika. Allison trommelte Künstler zusammen, deren Bilder einem vor Schmerz das Gehirn zusammenzogen. Mein Auftrag war es, ihren Fotos einen ruhigen Rahmen zu geben. Wir wollten gemeinsam aufrütteln. Es wurde ein gelungener Abend voller Anmut und Stolz angesichts dieses grauenvollen Themas. Die Veranstaltung verband uns, wir trafen einander danach fast täglich, und nur zwei Wochen später landete ich in den Armen von Allison Bishop und verweilte dort für fast sechs Monate.

Wir waren nie wirklich ein Paar gewesen, sondern einander ein willkommener Anker. Es war ein gutes Miteinander, mit vielen Gesprächen, klugen Gedanken und ohne jede Verpflichtung. Dennoch – ich war ihr treu geblieben. Für diese Zeit.

Dann, irgendwann, hatte es mich weitergetrieben.

Den Boden hatte ich schon längst unter den Füßen verloren. Es waren atemlose und rastlose Jahre. Wild und ungestüm. Längst beschränkte ich meine gestalterischen Welten nicht mehr auf Innenräume. Meine Fantasie durchbrach alle Grenzen. Ich baute Fata Morganen in U-Bahn-Stationen, ließ provenzalische Lavendelfelder in Abrisshallen am Hafen entstehen, projizierte die Belle Époque auf die glatten Fronten von Glas- und Stahlgebäuden. Es war herrlich. Und gefährlich. Alles wurde nur für den kurzen Augenblick eines Events erschaffen. Oft ohne Genehmigung und ohne Arbeitsschutz beim Auf-und Abbau. Ich hatte mir eine Truppe von Irren und Halbirren zusammengesucht, die jede meiner Ideen mit Präzision und Schnelligkeit zum Leben erweckten und genauso schnell wieder verschwinden ließen. Wir waren in Brooklyn, in Harlem, in der Bronx – überall. Nie stieß mir etwas zu. Kein Knochenbruch, keine Blessur, keine Schramme. Dazu musste ich schon nach Hause kommen. Nach Long Island, ins entschleunigte Southampton, um am helllichten Tag von einer Kugel getroffen zu werden, die nicht mir galt. Abgefeuert von einer Polizistin.

Owen Lester’s Fingerknöchel schmerzten und schwollen an. Erschüttert blickte er auf das Loch in der Wand. Die zerfetzte Tapete und das abgesplitterte Holz darunter zeugten anklagend von Zorn und Zerstörungswut. Owen zitterte, Tränen schossen ihm in die Augen. Widerwillig blinzelte er in das angrenzende Esszimmer und erfasste das Chaos um ihn herum.

War das wirklich sein Werk? Hatte er derart die Kontrolle verloren?

„Bitte, lass mich diese Wut vergessen. Treib sie mir aus. Ich möchte so nicht sein“, flüsterte Owen mit gefalteten Händen und sank auf die kalten Steinfliesen der Küche.

Befangen wandte er sich zum Laufstall. Sein dreijähriger Sohn Connor schrie tonlos, die Augen weit aufgerissen. Sein kleines Gesicht färbte sich rot. Der Rotz lief ihm aus der Nase.

Auf Knien robbte Owen zu ihm rüber.

„Schsch“, machte er unablässig und hob beschwörend seine Hände. „Beruhige dich, mein Kleiner. Daddy ist wieder lieb, ja?“

Sein Sohn schien starr vor Schreck zu sein.

Sanft sagte er: „Alles ist gut. Wirklich.“ Der Versuch zu lächeln misslang, als er unter dem Esstisch in die großen Pupillen seiner Zweitgeborenen sah. Georgia’s Unterlippe war aufgeplatzt, Blutstropfen fielen auf den Boden. Jeder Tropfen klang wie ein Donnerhall in seinen Ohren. Vorwurfsvoll und beschämend zugleich.

„Alles ist gut, Georgia, Dad hat sich wieder im Griff, mein Schatz“, flüsterte er. „Wir müssen Connor dazu bringen, zu atmen. Sieh nur ... er läuft ganz rot an.“

Verängstigt blickte Georgia zu Connor, der sich an den Gitterstäben festkrallte, den Mund weit aufgerissen, gab er dennoch kein Geräusch von sich.

„Komm, meine Kleine. Wir müssen etwas tun“, sagte Owen auffordernd.

Als er sich vor dem Laufstall aufrichten wollte, sprang wie aus dem Nichts seine Älteste auf ihn zu. Über ihrem Kopf hielt sie das Tranchiermesser in den Händen.

„Fass Connor nicht an!“, schrie sie und trat entschlossen zwischen ihn und den Laufstall.

„Erin, Süße, dein Bruder kriegt keine Luft mehr. Lass mich zu ihm.“

Erin’s Gesichtsausdruck spiegelte blanke Wut und Abscheu. Ihr Herz hämmerte gegen ihr blutgetränktes Nachthemd. Ihre Augenbraue hatte eine große Platzwunde, Blut lief in ihr rechtes Auge. Ihr Jochbein zeugte von Owen’s Faustschlag.

„Rühr ihn nicht an!“, schrie sie erneut und baute sich mit hocherhobenem Messer drohend vor ihm auf.

Connor langte mit den Händchen durch die Gitterstäbe nach ihr, seine kleinen Lungen japsten nach Luft, und im nächsten Augenblick gab er einen infernalen Schrei von sich.

Sofort drehte Erin sich zu ihrem Bruder. „Gut gemacht, mein Kleiner. Jetzt weiter atmen“, munterte sie ihn auf.

Die Urgewalt, mit der Owen sie gegen den Laufstall presste, sah Erin nicht kommen. Ihr Vater drückte sie zu Boden, setzte sich mit seinem schweren Körper auf ihren Brustkorb.

Panisch rang sie nach Luft, das Messer entglitt ihr und landete scheppernd auf den Dielen.

Dann hörte sie einen lauten Knall.

Holz zersplitterte.

Schützend riss sie die Hände vor ihr Gesicht, bedeckte ihr schmerzendes Auge. Trotzdem erkannte sie unklar, wie ihre Mutter mit brachialer Wut erneut zuschlug.

Owen stöhnte und krümmte sich. Griff nach dem Gitter des Laufstalls.

Die Geräusche, die ihre Mutter von sich gab, brannten sich für immer in Erin’s Gedächtnis.

Die Mutter schlug erneut zu. Sie hielt nur noch ein Stuhlbein in der Hand. Der Rest lag zerschmettert neben ihrem Vater. Dennoch.

Sie schlug und schlug und schlug.

Wundervoll. Die kühle Morgenluft auf Long Island machte einfach gute Laune. So klar, salzig und erfrischend. Ich schlenderte mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand auf mein altes, wackeliges Terrassendeck und atmete tief ein.

Halleluja. Das Leben war großartig. Wohlig streckte ich mich, fühlte einen betörenden Schauer, der sich meinen Körper hinabschlängelte, und blickte in meinen Garten – oder in das, was mal meine grüne Oase werden sollte.

Bisher war es nur eine Fläche voller Gestrüpp und Erde, in dessen trister Mitte ein brandneuer Pool mit verspielten Fliesen in der Sonne glänzte.

Noch.

Denn ich hatte eine Vision vom perfekten, blühenden Paradies. Das Grundstück war groß. Riesig für den Preis, den ich vor zwei Jahren für Haus und Grund bezahlt hatte. Die Mill Pond Lane war eine gute Adresse, aber nicht zu verlockend für Finanzjongleure, da sie nördlich von der berühmten Bundesstraße 27 lag. Südlich gelegene Grundstücke waren hier am East End völlig überteuert. Dieses ganze Trara rund um die Koordinaten einer Bundesstraße war mir, als gebürtige und begeisterte Manhattanerin, völlig gleichgültig.

Ich mochte das Haus und seinen alten Charme. Genau danach hatte ich gesucht. Nach dem perfekten Rückzugsort für meine offensichtliche Liebe, dem Fotografieren – und meiner heimlichen Liebe, dem Hang zum Abenteuer jeglicher Art. In den Hamptons

konnte ich beidem unbeschwert nachgehen. Obwohl ich eine angesagte Fotokünstlerin war, krähten hier keine Henne und kein Hahn nach meinem Ruhm. Die Insulaner waren diskret oder desinteressiert. Mir war es recht.

Ich starrte auf das Brachland. Es war an der Zeit, etwas daran zu ändern. Mir fehlte nur der richtige Mensch, um meine Ideen umzusetzen. Erst einmal stand allerdings die Tagesplanung an. Ich hatte eine Verabredung mit Mrs. Jane Dallaway, zum Tee.

Jaja …